Ratskeller – Als de ‚Shimmy‘ „Shimmy“ tanzte

Ab 1884 ‚Großer Storchen‘ – Ab 1902 Konzert-Cafe und Spanische Weinstube mit Remi-Demi

Er fiel die vergangenen Jahre kaum auf, der ehemalige „Ratskeller“ am Münsterplatz, wo der hohe, vierstöckige Giebel sich derzeit eingerüstet präsentiert und man die Fenster und die Fassade erneuert. Und so wissen nur noch wenige Villinger, was sich einst hier an ‚Remmi-Demmi‘ abspielte, als sich vor vielen Jahrzehnten das Villinger Jungvolk hier auch zum Schwof trafen.

In den späten 20ern und frühen 30er-Jahren war dann auch hier die Zeit des Musikstils ‚Shimmy‘ angesagt, der sich mit dem Jazz verbreitet hatte: „Shimmy-sha-wabble“ oder Hootchy-Kootchy („to cooch“ = mit dem Hintern wackeln) war ein Tanzstil, der zunächst auf Rummelplätzen und bei Volksfesten vorgeführt wurde und bei dem die Tänzer alle Glieder schüttelten.

Etwa um 1925, nachdem der Große Storchen zum Ratskeller geworden war und der Tanz um 1920 nach Europa gelangte, gaben französische Tanzlehrer dem ‚Platztanz‘ zunächst ’sittsamere‘ Tanzfiguren: kurze Schritte auf kleinstem Raum. Und die Schlager von damals wurden zu Ohrwürmern: ‚Ausgerechnet Bananen…‘ mit der Kapelle Bernard Etté um 1924.

Shimmy-Schuhe. Klar, dass es wenig später auch im ‚Ratskeller‘ den Shimmy-Fox gab (‚Wenn dein Schatz die Treue bricht‘) und den Shimmy-Blues (‚Wenn du mich sitzen lässt…‘)

Und es gab eben auch modebewusste Villinger, die dem Shimmy-Stil folgten und die weiß-schwarz oder beige-schwarzen, spitzen Shimmyschuhe trugen.

Einem Villinger jener Jahre namens Engelbert Grießhaber (†) gab man zeitlebens den Spitznamen „Shimmy“, weil er die ersten auffälligen Schuhe in dieser Mode trug.

Fräulein, woll’n Sie…

Fräulein, bitte woll’n Sie Shimmy tanzen?

Shimmy, Shimmy, ist der Clou vom Ganzen!

Früher einmal machten es die Wilden.

Jetzt gehört’s dazu, um sich zu bilden.

Früher war es shocking,

jetzt gehört’s zum guten Ton.

Shimmy, Shimmy ist die große Mode,

Shimmy ist die Sensation.

 (1921 Text J. Brammer/A. Grünwald, Musik von E. Kálmán)
Einst Jugendstil mit Shimmy-Tanz; später Frühstückspension

 

Zu den gern gesehenen Stammgästen im Ratskeller gehörten auch andere umtriebige, ortsbekannte, ledige und eben auch attraktiven Jungmänner, die mit Fritz Keller und Peter Tonolini oft den Takt der Party bestimmten, die sich wohl auch mannhaft brüsteten und versuchten, nichts anbrennen zu lassen.

Deswegen soll es in der Weinstube wegen missverstandener Techtelmechtel dann auch schon mal zu Handgreiflichkeiten und dann doch glimpflichen Messerattacken gekommen sein, weil man dem Angreifer das Heft des Bajonetts nach unten durch die Handfläche zog…

Die Wirte. Um zu den Wirten des einst ‚Großer Storchen‘, dem späteren ‚Ratskeller‘ zu kommen, muss man die Chronik bemühen:

1884 war die Witwe von Valentin Werne Pächterin bei Heinrich März; ab 1902 begann Franz Xaver Mayer mit dem „Ratskeller“ und 1912 wurde Karl Reich  Pächter bei Willibald Riegger. Es folgten dann wohl mit dem Zusatz „Spanische Weinstube“ Sarat Bonaventura und 1927 Miguel Vives, bis schließlich von 1930 bis 1939 Martin Vives im Eigentum von Josef Tonolini wirtete.

Mit dem Ratskeller in Zusammenhang stand anfangs und Mitte der 30-er Jahre auch ein kleines Haus in der Oberen Straße; eins aus dem Mittelalter mit spätgotischen Fenstern und mit einem zweigeschossigen Erker.

Der Obst- und Gemüsehändler Johann Lehmann aus Gutach hatte das Haus von den Erben eines Ferdinand Stocker gekauft. Eine Immobilie der Gründerjahre, das den Villingern als ‚Wittumsches Haus‘ bekanntwar.

Warb mit Postkarten 1937 noch als „Konzert-Kaffee und Wein-Restaurant“: der Ratskeller am Münsterplatz.

Von eben diesem Haus in der Oberen Straße habe ein ein schummrig-dunkler Gang bis zum Münsterplatz geführt, so die aktuell noch gute Erinnerung de damals jungen Luise Keller (* 1917). Das besondere daran, „die Lehmanns nutzen diesen Gang für Ablage der noch Tage zuvor frischen exotischen Früchte, wie Orangen, Bananen oder Feigen, die dem Verderb schon recht nahe waren.  Wer das wusste und auch durfte, der bediente sich schon mal an den Früchten der minderen Qualität…“

Erdnüsse. Was durch Kinder damals zu ganz bescheidenem Umsatz führte, sei gewesen, dass man sich für fünf Pfennige eine Handvoll Erdnüsse kaufte. Noch 1925 bis 1930 in den Haushalten eine Rarität wie Bananen und Orangen.

Noch mit Baulücke zum Münsterplatz: die Fassade des ‚Ratskeller‘ mit werbender Schrift.

Die Baulücke zum Münsterplatz (Bild) schloss Johann Lehmann bereits 1914, und 1927, noch in den goldenen 20er Jahren, ließ er das Vorderhaus mit Laden baulich vergrößern, den Lehmanns Tochter Anni Wöhrle mit ihrem Ehemann führte. Architekt Karl Naegele hatte damals die werbende Idee, den Erker mit geschnitzten Früchten, Ornamenten, mit Säulen und Figuren mit Obstschalen ausstatten zu lassen.

Requiriert. Doch zurück zum ‚Ratskeller‘. Nach 1945 wurde Josef Tonolini’s Hotel ‚Ratskeller‘ dann auch durch die französische Militärverwaltung ‚requiriert‘, wobei es wohl auch zu Sachschäden gekommen war, die eben durch Einzelpersonen der französische Truppen oder deren Dienststellen verursacht wurden. Tonolini wurde finanziell entschädigt.

Zum Hotel Ratskeller ging es auch von der Oberen Straße aus; vorne links

Dafür war in Baden ein Entschädigungsgericht in Freiburg zuständig, von wo aus eine Entschädigungs-Kommission und ein Entschädigungs-Gericht die Verfahren für den Ausgleich von Besatzungsschäden bestimmten: für Schäden und Nutzungsausfall von 1945 bis 1948 wurden 2 000 und für weitere Jahre von 1948 bis 1950 wurden 5 000 bis 50 000 Mark vom damals lokalen Requisitionsamt bezahlt.

Nach 1955 wurden die oberen Stockwerke zu Wohnzecken genutzt, reichlich später zogen als Nachfolger des Modehaues Ackermann die Textiler von Haux ein, die für den Einblick im Erdgeschoss auch die Bogenfenster zum Münsterplatz nutzten.

Heute steht die Immobilie im Eigentum von Erwin Müller oder eben dessen Drogeriemärkten, und wie man hören konnte, wird von deren Zentrale nicht im geringsten an einen Verkauf an Villinger Interessenten gedacht.

Die Frage nach einer weiteren Nutzung hinter der „Ratskeller-Fassade“ will die Pressestellebis heute (2019) genauso wenig beantworten, wie es tabu ist, dass man aus historischer Neugier das Haus mal von innen sehen dürfe…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2 Gedanken zu „Ratskeller – Als de ‚Shimmy‘ „Shimmy“ tanzte“

  1. Zitat Anfang
    Heute steht die Immobilie im Eigentum von Erwin Müller oder eben dessen Drogeriemärkten,
    und wie man hören konnte, wird von deren Zentrale nicht im geringsten an einen Verkauf
    an Villinger Interessenten gedacht.

    Die Frage nach einer weiteren Nutzung hinter der „Ratskeller-Fassade“ will die Pressestelle bis heute (2019) genauso wenig beantworten, wie es tabu ist, dass man aus historischer Neugier das Haus mal von innen sehen dürfe…
    Zitat Ende

    Ich frage mich, wenn ich so was lese, wo ist da der GHV.
    Spötter sagen ja, es sei nicht der Geschichts- und Heimatverein, sondern der Geschichts- und Reiseverein.

    Wenn man die Presse aufmerksam liest, liest man doch eher etwas über ihre Reisetätigkeit und ihren Veröffentlichungen.
    Es fehlt leider ein Verein, wie Stadtbild Villingen mit Dr. Fuchs an der Spitze und seinen Mitstreitern.
    Die sich auch mal aktiv einsetzten.

    Dabei haben die Mitglieder des GHV doch einiges an Reputation.
    Und sogar einen ehemaligen Bürgermeister, dessen Engagemet sich als er noch in Amt und Würden war,
    doch im Rahmen hielt.

    Kritische Grüße vom Wunderfitz

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