Villingen  1873: Erster Bahnzug, neuer Stadtpfarrer und kein Fasnet-Umzug

Kaum zu glauben, aber schon 1873 ging es vor Ort ums Gas. Um die geplante Gasfabrik. Aber auch um eine große Brigach-Korrektion, auch wenn für beides galt, „man sei damit noch in der Schwebe.“

Insgesamt war 1873 wohl eher eines, das auch den Bürgerausschuss nicht besonders forderte, denn der kam nur zusammen, um einen dritten Hauptlehrer, einen Sackflicker für die Fruchthalle und einen Lampenanzünder für die Straßenbeleuchtung mit Petroleum-Lampen zu bestimmen.

Deutlich zu spät kamen die Villinger jener Zeit in der Sache „Remontehof“, über den bereits ein Jahr zuvor heftigst gestritten wurde. Doch das Kriegsministerium hatte sich bereits für eine Anlage in Hessen entschieden, worauf man wenige Jahre später hören durfte, dass diese Pferdezucht für’s Militär aufgegeben wurde, was auch den Villingern sonst passiert wäre.

Was in 1873 die Fasnet betraf, hieß es knapp: „Kein Umzug!“, obwohl der Narrenvater alle „Hansel mit oder ohne Gredle“ zur Besprechung eingeladen hatte. Das aber schmecke dem bereits ortsbekannten Widersacher der Fasnet gar nicht. Zeichenlehrer Göth macht den Narros in der Zeitung ein wenig schmeichelhaftes Kompliment: „Während der Fastnachtstage hat gar mancher, der sich aus dem Getümmel der Straße, dem einförmigen Geklingel der Narros und dem unerquicklichen Geschrei der Wuest retten will, angenehme Erholung durch die Besichtigung zweier neuer Orchestrionwerke bei L.P. Schönstein“.

Das Leben allgemeinerer Art betraf anfangs 1873 viel eher die Gründung eines “Kriegerverein“ und eine weitere „Belfort-Feier“ in Erinnerung an die Belagerung der französischen Festung, zu der der Pfarrverweser Winterhalter die Festrede hielt. Kurz darauf werden Winterhalter und Kaplan Katzenmeier versetzt und für Stadtpfarrer Amann feierte man dessen Investitur.

Als verspätete Sensation machte in 1873 eine Nachricht aus Amerika die Runde: Hubert Huber, ehemals Wundarznei-Diener in Villingen, der wegen seiner strafbewehrten Umtriebe 1848/49 nach Amerika flüchtete, sei Arzt in Cincinnati geworden, wo er seine Patienten zu Pferd oder in der Equipage aufsuche, so die Meldung in der Gazette „Putnam Sentinel“, die auch seine Präsidentschaft einer Bahngesellschaft benannte.

Alles neu machte der Mai 1873, als in der „Sommerwirtschaft Kalkofen“, später Jägerhaus, eine Musikgesellschaft gegründet wurde.
Mit visuell künstlerischem Interesse begleitete man eine Auktion in der „Blume-Post“, wo „à tout prix“ eine Sammlung Ölgemälde der Düsseldorfer Schule versteigert wurde.

Als Fortschritt im Alltag gelten zwei neue Brief-Laden der Reichspost auf den Hauptstraßen, die damit mit insgesant vieren „die Bevölkerung erfreuten.“

Mit Böllerschüssen begrüßten die Villinger am 31. Oktober 1873 die Einfahrt des ersten Bahnzuges von Hausach her, was mit einem Fest-Bankett in der „Hubersche-Halle“, später Tonhalle, gefeiert wurde.

Bürgermeister Schupp hatte dem Großherzig bereits mittels Telegramm gedankt und auch persönlich dem Posthalter Dold, einem der Aktivisten im Komitee im Bahnbau zur Entwicklung der Stadt.

Doch die Hoffnung für die heimische Industrie wurde zunächst zerschlagen, obwohl man die Wiener Uhrenmesse stark beschickt hatte, blieben Anschlussgeschäfte eher aus, während die Fabrikation von Orchestrions belebt wurde.

So verlegte Tobias Heitzmann seine Werkstatt von Vöhrenbach nach Villingen und auch Jacob Wiedel fertigte seine Zinnpfeifen statt in Unterkirnach in den Villinger Kaiserring. Und das alles ohne obligatorische Umlage an die Stadt, die damit für weiteren Zuzug lockte.

Längst ortsbekannt vergrößerten die Gebrüder Oberle ihre Bäckerei und Benjamin Grüninger & Söhne verlegten ihre Glockengießerei vom Glocken-Hiesle beim „Bügeleisen“ im Romäusring in den Hof des früheren Amtshauses (später Landratsamt, heute Seniorenresidenz), das man bereits erworben hatte.

Im örtlichen Handwerk blieb das Meiste wie es war: Alois Bechert übernahm die Gärtnerei seines Vaters, Achilles Leuther, populär als spaßiger Barbier, kaufte das Haus des Eigentümers namens Compost (später Leu) an der Niederen Straße und Fotograf von Herzer gab seine Atelier auf. Wer danach ein „Conterfei“ von sich oder der Familie wollte, der zog sonntags zum Fotografen Kurz nach Mönchweiler.

Wenig Bewegung verzeichnen in 1873 Handel und Kleinhandel: Buchbinder Görlacher übernimmt die Buchhandlung von Hermann Höhler und verlegt den Laden in die Blume Post.

Ein Zungenbrecher der Jugend in jener Zeit:
Hinter Hermann Höhlers Huus hät mer hundert Hase here hueschte!

 

Leo Beha, Bandagist und Seckler (Handwerker für Beutel, Taschen, Handschuhe und Gürtel, Anm.)  zieht ins Haus von Fabrikant Holtermann (später Sutermeister) gegenüber der „Schnecke“. Dem Wettbewerb in Spezereiwaren stellen nehmen Karl Ummenhofer „zur Porzellanfabrik“ und Karl Neidinger auf.

 

Der Konsumverein hat zwar 80 Mitglieder, beklagt jedoch, dass das aristokratische, eingewurzelte und spekulative Element ein schwieriges Umfeld“ sei. Derweil eröffnet Gastwirt E. Kuner den „Deutschgen Kaiser“ an der Brigachstraße.

 

Michael Lion, populärer Bürger mit jüdischem Glauben, was 1873 wohl noch einen nennenswerte Besonderheit war, bewirbt sein Kleidermagazin, gilt als Aktivist bei der Gründung des „Kriegerverein“ und hielt bei der Belfort-Feier eine „begeisternde Ansprache“.

Zu höherer Politik kam es bei den Landtagswahlen: mit 116 Stimmen wählten die Villinger den Geheimrat Professor Johann Caspar Bluntschli aus Heidelberg während der Gegenkandidat Edelman aus Konstanz lediglich 17 Stimmen erhielt.
Für 15 Personen wurde deren Konkurs (damals Gant genannt) zum faden Gedenkjahr 1873.

 

 

 

 

 

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